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„Computer with an Internet Connection“ von Daniela Russel and Galen Jackson, USA, 2019

Dziga Vertov‘s experimentaler Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“, 1929, stellt die Grundlage für das Werk dar. Ein Fotograf zieht mit seiner Kamera los und erzählt vom russischen Leben: im Stollen, auf Baustellen, im Gas-oder Stahlwerk, im Kreissaal, Krankenhaus, bevor, während, nach einer Geburt, am Staudamm, am schäumenden Wasser, in einer Fadenfabrik, am Hafen, in der Druckerei, beim Galopprennen, einer Modeschau, am Strand und Sprungturm, Gymnastik, Schwimmern, Wasser, Treppen, Leitern, Schiffsreling, Fango, schminken, flirten, Sonnen baden, Frau und Mann. Es ist ein endloser Strom von Eindrücken. Ein historisches Zeitdokument, ein Klassiker. 

Der Blaustich erklärt sich durch die Grundbeleuchtung des Galeriespaces: Kunstbezirk. Es ist eine Handyaufnahme von Ursula Drees

Dem beigestellt der Film mit dem Titel: Computer with an Internet Connection“. Ein Algorithmus wirkt und findet passende Vergleichsbilder. Die verblüffende Übereinstimmung der Bildinhalte, Formsprache, Einstellungsgrössen, Hell und Dunkel Kontraste, Bewegungschnelligkeit, Bilddetails lässt vermuten, dass programmierte Einschränkungen vorgenommen wurden. Das schwarz weiss Bild und die zeitliche Einordnung entspricht dem Originalbild. 

Links seitig werden teils bekannte Filme erkannt. Ist das der Film „Badende im Berliner Wannseebad“, oder dort  Leni Riefenstahl‘s „Triumph des Willens“ neben Ansichten von Kathedralen, Eingängen oder Türen zu entdecken? Picasso, Einstein, Stars der Schwarzweiss Film Era wie Charlie Chapman lassen sich im schnellen, linken Bildwechsel erkennen. Es sind Alltagsbilder, aber auch Ikonen der Film- und Fotokunst, die zu einen rasanten Parallelfilm werden. 

Von Modernität der Gegenwart kann nicht gesprochen werden, dafür sorgt der Algorithmus. Die Schnittgeschwindigkeit ähnelt wohl am ehesten dem Takt der Gegenwart.  Es lässt sich nicht leugnen, dass der Vergleich und die Addition der Vergleichsbilder Faszination ausüben. In der Schnelligekt der Bilder einzelne Motive festzuhalten ist verführerisch, gleichzeitig macht sich ein Gefühl der Ruhe und Egalität breit. 

Der Blaustich erklärt sich durch die Grundbeleuchtung des Galeriespaces: Kunstbezirk. Es ist eine Handyaufnahme von Ursula Drees

Wo beginnt die kreative Leistung, der künstlerische Moment? Ist es die Idee, das Programmieren des Algorithmus? Ist es die Formatierung? Wer ist der Künstler? Der Mensch oder der Rechner? Ist es ein künstlerisches oder technisches Artefakt mit künstlerisch wirkenden Bildern? Diese Frage ist noch ungeklärt. In jedem Fall ist die Wahl des Titels mit Humor und Kenntnisreichtum durchgeführt. Manch ein Künstler verpasst die Möglichkeit, diese Form der Identifikation durchzuführen und auch eine erweiterte Aufladung zu erschaffen.

Beitrag von Prof. Ursula Drees

Credits: Daniela Rossell & Galen Jackson
United States 2019
Single-channel video installation
https://www.greenenaftaligallery.com/artists/daniela-rossell
http://galenjackson.com/

gesehen auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter im Kunstbezirk in der Ausstellung: Expanded Media.

Low-tech Virtuality experience for one performer and one participant. Virtual Feelings, Episode 1: The Kiss von Inbal Yomtovian und Marc Fragstein.

Die Besucherin wird einzeln aufgerufen. Es geht einige Stufen nach unten, Türen gehen auf, werden geschlossen, hinein in den ersten Flur, dann in den zweiten. Dort steht der kleine runde Tisch, ein Stuhl. „Bitte legen sie ihre Brille ab, ziehen sie die Schuhe und Strümpfe aus, legen sie die Kette, Uhr und das Halstuch ab.“  Alles wird befolgt, dann werden die Augen verbunden und  Kopfhörer aufgesetzt. Glücklicherweise wird die Besucherin zum tatsächlichen Performance Ort geleitet. Bis dahin ist alles Wirklichkeit. Alles.  Natürlich interessiert die Low-tech Virtuality experience for one performer and one participant. Keine Frage, die Rezipientin wundert sich, wo denn die Medien, die Technik und der Datenhandschuh, oder das Head Mountet Set ist. Das gibt es alles nicht.  Es ist eine Low Key Virtual Reality Performance

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Nun sitzt die Besucherin auf dem Sofa und Musik und Kneipengeräusche sind aus der Ferne zu hören. Die Tür geht auf, Rauchgeruch schwappt in die Nase. Schritte und schon wird eine sehr gut gekühlte Flasche in die Hand gedrückt. Da sitzt sie nun, mit Augenbinde und hält die Flasche in der Hand.  Trinken nun oder nicht? Was mag in der Flasche sein? Bier, Schnaps, Wasser, Wasserfarbe, Wein, Sprudel? Die Tür geht wieder auf, wieder Rauchgeruch, Schritte. Jemand berührt die Schulter.  Wird gerempelt? Plötzlich wird eine Flüssigkeit über die Füsse gegosssen.

Das Kopfkino beginnt, denn eigentlich lässt es sich gut entspannen. Das Vertrauen wächst. Innerlich geht die Stimme los und beschwert sich über das grobe Verhalten. Dann geht die Tür wieder auf und jemand nimmt nebenan auf der Couch Platz. Sehr nah und aufdringlich. Der Atmen riecht nach Bier, Hände berühren die Schulter und sogar das Gesicht. Es riecht. Jetzt heisst es reagieren. Die Besucherinn mag nicht ausserhalb der Situation sein. Sie dreht den Kopf weg, hält die Hand an ihr Gesicht und unterbricht die unerwünschte Annäherung. Sie will sich nicht weiterhin in einem künstlerischen Raum befinden, denn alles was geschieht ist Wirklichkeit. Das Aufdringliche verschwindet, die Tür geht auf und zu.

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Eine Pferd läuft hinter der Rezipientin vorbei. Dann kommt ein Hund. Es ist sicherlich ein grosser Hund. Seine riesige Zunge schleckt die Flüssigkeit vom Fuss. Dann wird auch ein bisschen das Hosenbein beschleckt. Sehr hündisch alles. Auch er verschwindet. Dann geht alles sehr schnell. Ein Difilibrator wird auf die Brust gesetzt, es ist eine schreckliche Notsituation. Was geht hier vor? Ist so der Herzinfarkt, ist es einer der zur Besucherin gehört? Oh ja, die Hand erhebt sich und greift zum  medizinischen Gerät. „Lass ab von mir“. Aber es ist zu spät, wenige Augenblicke später liegt ein pulsierendes Herz in der Hand. Warm, lebt es in der Hand. Wer hat da wessen Herz gestolen? Ist es vielleicht das Eigene? 

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Dann ist es vorbei. Hoffentlich ist hier das Leben nicht gegangen. Scheinbar. Aufstehen, zurück geleitet werden, nach draussen und die Verdunklungsmaske und die Kopfhörer dürfen abgelegt werden. Der Ort des low key virtual reality performance wird verlassen, die eine Wirklichkeit wird mit einer anderen ausgetauscht. Das Erlebnis ist eindringlich, es ist wahrhaftig. Die innere Geschichte ist erlebt, auch wenn sie nach 6 Minuten ein Ende findet.

Später werden die Techniken erklärt. So befinden sich tatsächlich auf einem Tisch alte Bierflaschen und volle Aschenbecher. Die muffeln überzeugend nach Kneipe. Der Raum selbst ist eher eine Kammer, winzig. So klein kommt sie in der Vorstellung nicht daher. Die Hundezunge ist ein nasser Lappen und der Defilibrator ein Staubsauger auf der Brust. Gerade der Staubsauger ist verblüffend. Hätte die Besucherin gewettet, es wird tatsächliches Gerät angelegt. Das pulsierende Herz ist Slime, etwas erwärmt. Das wiederum erstaunt nicht, ähnliches wurde vermutet. Ein tolles Erlebnis, eine tolle Performance auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter erlebt.

Beitrag von Prof. Ursula Drees

Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“

Bystander von Liu Chang

Bystander ist eine interaktive Multimediainstallation der jungen Künstlerin Liu Chang, die thematisch traumatisierende Missbrauchserfahrungen ihrer Kindheit und eine daraus resultierende posttraumatische Belastungsstörung zur Grundlage hat. 

Filmstill aus der Installationsprojektion ©Liu Chang

Kern der symmetrisch angeordneten Installation ist ein interaktives Videogame am Ende des Installationsraumes, zu dem die Besucherin durch hintereinander hängende Gazeschichten gelangt. Leicht geblendet wird die BesucherIn von den, darauf vervielfältigt erscheinenden, Gegenlichtprojektionen aller Erinnerungsfragmente, die begleitet von einer weiblichen Stimme, die BesucherIn auffordert, in die tiefste verborgene Ebene des traumatischen Erlebnisses hineinzugehen und einer jüngeren Stimme, die dem folgt. Hier ist der Ausgangspunkt des interaktiven Videospiels. Sie steuert, die von hinten zu sehende, mädchenartige Identifikationsfigur (First Person Shooter Perspektive) durch eine Synapsen ähnlich verwobene Struktur einer virtuellen Landschaft. Diese löst sich immer wieder in Einzelteile auf und die BesucherIn muss herausfinden, wie sie Inhalte freilegt und zu neuen Erzählebenen, also Spiel-Leveln gelangt.

Filmstill aus Ebene 1 des Videospiels ©Liu Chang

Tag und Nacht, Vergangenheit und Gegenwart, oben und unten, real und virtuell, alles fließt ineinander und erscheint vierdimensional. Überall verstreutes fragmentarisches Gewimmel, aus den von der Künstlerin in Hong-Kong aufgenommenen 3D-Welten und abstrakte Elemente werden von lauten Soundkulissen begleitet. Das Einnehmen der Position des personalen und gleichzeitig allwissenden Beobachters  lässt die BetrachterIn in eine ähnliche Dissoziation, wie sie die Künstlerin am Eigenen Leib erlebte, eintauchen. Eine fluktuierende Auflösung des Visuellen verstärkt zusätzlich die Wahrnehmung der urbanen Geräusche, die durch den zeitweisen Verlust der Orientierung zur Bedrohung für den natürlichen Instinkt werden.

Eingangsstill Ebene 3 des Videospiels ©Liu Chang

Das narrative Design wird von der Künstlerin virtuos benutzt und ermöglicht, innere und äußere Wahrnehmung fließend und gleichzeitig anzubieten. Das geschieht in einer einprägenden und dem Thema angemessenen neuwertigen Ästhetik. Reale filmische Elemente sind als Schlüsselszenen erzählerisch und visuell homogen in das Spiel eingewoben. In einer Solchen betritt die BetrachterIn den „secret garden“ zusammen mit der Protagonistin. Dort treffen Beide eine weibliche Überfigur, in dessen Armen die Spieldramaturgie den heimlichen Höhepunkt findet, nämliche die Auflösung der Auflösung, also die Heilung. 

Filmstill aus Ebene 3 des Videospiels ©Liu Chang

Auch wenn es pathetisch klingt, so merkt die Autorin an, dass sie diesen Pathos nicht unangenehm oder übertrieben empfindet. Der Umgang mit dem Thema und die lückenhafte und zeitgleich dichte Formensprache vermitteln Ehrlichkeit. Diese Aufrichtigkeit wirkt sowohl bestimmend, als auch sanft und verspielt. Latente Wut und Hilflosigkeit transportieren sich sowohl beim Bedienen des Games an und für sich, als auch in den wenigen eingewobenen realen filmischen Szenenbruchstücken. Besonders hervorzuheben ist zum Beispiel eine Szene von essenden Männern, deren Handeln, ein schmatzendes in sich Hineinstopfen durch eindringliche Nahaufnahmen vermittelt wird. Die BetrachterIn ist unmittelbar involviert und visuell eingebunden. Diese laut grunzende Selbstzufriedenheit vermittelt die Urform männlicher Ignoranz, eine nahezu selbstverliebte Dummheit, die keinen Raum für Reflexion oder Empathie lässt. Der Mann, der alles in sich stopft. Er schaut nicht rechts oder links, frisst und verleibt sich alles ein. Die Metapher sitzt.

Eingangsbild Spielebene 4 ©Liu Chang

Die Arbeit der jungen Künstlerin befasst sich mit dem Weiblichen, dem Reflektieren und Verarbeiten persönlicher Erlebnisse. Die Künstlerin referenziert sich selbst.

Die Jury des 33igsten Stuttgarter Filmwinters des Wettbewerbs der Kategorie „Network Culture“ fühlt sich durch diese Arbeit daran erinnert, dass die Bedeutung der Muse in der Kunstgeschichte eine Verschiebung erfährt. Frauen sind nicht länger Vorlagen des männlichen Blicks. Die junge Künstlerin erschafft einen virtuellen Körper und übernimmt die Kontrolle über alle Abbilder und deren Dekonstruktion.

 Filmstill aus Ebene 1 des Videospiels ©Liu Chang

Also fitting the festival theme very well is the work we have chosen in the Network Culture category. By playing „Bystander“, we become complicit in the experiences of the protagonist and join her on her journey of recovery from trauma. In this way, the protagonist open-sources her healing, and finds a way to talk about very personal experiences and repressed memories by moving the focus from herself to the artwork. The closer we come to the truth, the fuzzier the content – the images start to literally fragment and dissolve. Past and present collide and interact in this virtual world. The technology becomes a device to virtualise her journey and invite others to become involved. The work reminds us that the relevance of the muse in art history has shifted. Women are no longer models for male gaze. The young female artist creates a virtual body and takes control over all images and their deconstruction.“ Begründung der Jury

Der Künstlerin ist die Aktualität, der von ihr angesprochenen Thematik nicht die wichtigste Motivation, wie sie in einem Interview mit der Autorin berichtet. Auch kümmert sich die Absolventin des Medienkünstlers IP Yuk-Yiu nicht um einen vermeintlichen Kodex in der zeitgenössischen Kunst, Kunsttherapie und Kunst voneinander fernzuhalten, im Gegenteil: unter Zuhilfenahme eines noch intensiveren Studiums der Psychologie und dem Ausbau ihrer Fertigkeiten im Umgang mit erzählerischen Gestaltungsmöglichkeiten und deren Neuprogrammierung möchte sich die angehende Doktorandin vertiefend dem Thema der PTBS widmen.

Am Vergleich nicht interessiert, lässt sie sich am Anfang ihres professionellen Weges als Künstlerin nicht von scheinbar genialen, bestehenden und vorhergehenden Ideen blockieren. Sie benutzt ihre Werkzeuge, um Verbindungen zu schaffen, die entscheidende Voraussetzung für Verstehen und einen Bewusstseinswandel. Kunst und Forschung finden eine Verbindung in der Person der Künstlerin Liu Chang. 

Beitrag von Lili Weiss

Lili Weiss wurde in Arad/Rumänien geboren und diplomierte an der Bauhaus-Universität in Weimar als Multimediakünstlerin. In Genf absolvierte sie den Master in Kunst im öffentlichen Raum, einem Genre, das ihre Spielräume in Bereiche ausserhalb des musealen Kunstkontextes erweiterte. Sie inszeniert  Räume, indem sie sich der ganzen Bandbreite aller bekannten verfügbaren Medien in einer poetischen Bildsprache bedient und erschafft Situationen zur Bewusstmachung der Wahrnehmung. Mit ihren aktuellen Kunstfiguren bringt sie Kompositionen in Musikperformances auf die Bühne. Seit  2011 lebt und arbeitet sie in Stuttgart.

©Lili Weiss

Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“

„SchlemmerxBeats“ von der Studioproduktion Event Media, Hochschule der Medien, Stuttgart.

Schlemmer Beats. Kraftvolle Beats empfangen mich in der Staatsgalerie Stuttgart. Das von James Frazer Stirling erbaute Haus, 1984 eingeweiht und heute einer der wichtigsten Bauten der Postmoderne in Deutschland, bebte am vergangenen Freitagabend (14.2.2020). Am Valentinstag hieß es „Schlemmer Beats“. Zu diesem Event hatten Staatsgalerie und Hochschule der Medien Stuttgart (HdM) eingeladen. Eine Veranstaltung, die im Nachgang zu den 100-Jahr-Feiern des Bauhauses 2019 zu verstehen ist, die – und das ist das Besondere – das Bauhaus tatsächlich in unsere heutige Zeit transportierte und erfahrbar machte. Denn wenn im vergangenen Jahr das Jubiläum einer Institution begangen wurde, die gerade einmal 14 Jahre, nämlich von 1919 bis 1933, existiert hat, muss es, dieser Logik folgend, Dinge geben, die bis heute nachwirken. „Schlemmer Beats“ machte diesen Umstand dank der Interventionen der 12 Studierenden der Studioproduktion EventMedia an der Hochschule der Medien immersiv erlebbar und ließ die Bauhaus-Zeit, wo an der Reformhochschule das Experiment großgeschrieben, die Gemeinschaft gepflegt und Partys gefeiert wurden, für einen Moment aufleben.

Die erhaltenen Original-Figurinen des „Triadischen Balletts“ in der Staatsgalerie Stuttgart Fotografie©IlkayKarakurt

Das Besondere an „Schlemmer beats“ ist vielleicht weniger, dass man in der Staatsgalerie zu heißen Rhythmen abrocken (wobei… der Musentempel wurde ja für einen Abend zur Party-Location!), sondern dass man Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ quasi in Aktion erleben konnte. Das allerdings nicht über rekonstruierte Aufnahmen der Aufführungen des Balletts oder über Filme aus der Bauhaus-Zeit (wenngleich Schlemmers erster Film – und der einzige, bei dem er selbst unter dem Pseudonym Walter Schoppe in Aktion trat – als historische Referenz gezeigt wurde), sondern über drehbare Säulen, Animationen und Neuinterpretationen der Kostüm-Nachbauten. 

Eingangsbereich der Stirling Halle. Drei farbige Auswahlsäulen, Stelen. Fotografie©Ursula Drees
Die drehbaren Säulenteile ermöglichen die Konfiguration eines eigenen Triadischen Tänzers Fotografie©IlkayKarakurt
Eine schwarze, magenta farbige und gelbe Säule/Stele lassen die Besucherinnen einen eigenen Triadischen Tänzer konfigurieren Fotografie©IlkayKarakurt

Gleich im Eingangsbereich der Stirling-Halle empfangen mich drei bunte Stelen, deren oberer Teil jeweils in drei drehbare Würfelaufsätze unterteilt ist. Die erhabenen Ikons, die sich darauf befinden, deuten darauf hin, welche Formen ich an der Wand zu sehen bekomme: Ich kreiere meine eigene Figurine, indem ich die verschiedenen Möglichkeiten für Kopf, Arme/Rumpf und Beine, die Schlemmer für das insgesamt 18 Figurinen umfassende Original vorgesehen hatte, miteinander kombiniere. Die auf diese Weise mit modernster Technik entstandene Kunstfigur erhält einen Namen, der in irgendeiner Form mit dem Bauhaus in Verbindung steht, und per Knopfdruck wird sie auf die Wand im nächsten Raum übertragen. Dort steht sie zunächst groß im Rampenlicht, dann beginnt sie, mit den weiteren, von Besuchern gestalteten Figurinen zu interagieren – ich davor, imitiere unwillkürlich die merkwürdig abgehackten Bewegungen, die sich durch die unförmigen Kostüme unvermittelt einstellen, die aber auch durch die Musik inspiriert sein können. 

Abrockende Figurinen Fotografie©IlkayKarakurt
Die virtuellen Tänzer inspirieren zum Nachahmen Fotografie©IlkayKarakurt

Apropos Musik: Schon Oskar Schlemmer wollte zeitgenössische Klänge für die Uraufführung seines „Triadischen Balletts“. Arnold Schönberg sagte ab, deshalb fand die Uraufführung in Stuttgart 1922 zu Klängen von Enrico Bossi statt; später wurden die Tänze auch zu Musik von Debussy oder Hindemith aufgeführt. Das Bauhaus war Avantgarde, auch im Musikbereich – warum also diese Avantgarde nicht mit „Schlemmer Beats“ in die Musik unserer Tage übertragen? Das passt, und wie das passt! Die Electronic Beats, aufgelegt vom Waltraud Lichter Kollektiv, heizen ein, übertragen die abgehackten Bewegungen, die zwangsläufig durch die Volumina der Kostüme, durch die Sperrigkeit des Materials zustande kommen, in unsere heutige Zeit. 

Es ist sicher kein Versehen, dass die Bewegungen, die die Figurinen vollführen können, an Roboter erinnern, wie ja überhaupt das Wort „Roboter“ 1920 im Drama „W.U.R.“ des tschechischen Schriftstellers Karel Čapek eingeführt wurde. Filme von Maschinenmenschen füllten die Kinos der 1920er Jahre – allen voran Fritz Lang, der über das DJ-Pult, wie mir scheint, ebenfalls eine kleine Hommage erhält: Die kühlen Glaskuben erinnern in ihrer Staffelung an Langs Film „Metropolis“. Es scheinen visuelle Anleihen an nächtlich illuminierte Hochhäuser zu sein, die zugleich einen Kontrast zu der knallbunten Farbigkeit der auf den Wänden tanzenden Figurinen bilden. 

Kühle Staffelung von Lichtkuben à la Fritz Lang – der Ursprung des Schlemmer Beats Fotografie©Ursula Drees
DJ’s in Aktion. Fotografie©IlkayKarakurt

Und um das Event wieder in die analoge Welt zurückzuholen lässt die Stiftung Bauhaus Dessau mit den Workshops »Schlemmer Tanzen« und dem Fotostudio »Formengymnastik« unter der Leitung von Torsten Blume, Stiftung Bauhaus Dessau die Nachbauten der Figurinen in der Wirklichkeit lebendig werden. Es sind Kostüme, und als solche werden sie dann auch von den Teilnehmern des Workshops „Schlemmer Tanzen“ in Aktion vorgeführt. Sie machen Lust darauf, die Klänge aufzunehmen, das Alter Ego – selbst kreiert in Bauhaus-Manier – zu imitieren. „Wir sind die Roboter“ intonierte die Düsseldorfer Elektropop-Band Kraftwerk bereits 1978. Wie sich das anfühlen kann, war in der Staatsgalerie Stuttgart jetzt live zu erleben!   

Figurinen – live in Aktion! Fotografie©IlkayKarakurt

Das För­der­pro­gramm „Digitale Wege ins Mu­se­um II“ des Mi­nis­ter­i­ums für Wis­sen­schaft, For­schung und Kunst Ba­den-Würt­tem­berg ­er­forscht di­gi­ta­le Stra­te­gi­en und An­wen­dun­gen zur Er­wei­te­rung musealer Erfahrungen. Der Fo­kus liegt da­bei auf einer be­deu­tungs­vol­len Museumserfahrung, welche durch gameifizierte, mo­bi­le oder lokationbasierte An­wen­dun­gen von Mixed Reality (Virtual Reality, Augmented Reality) bis hin zur festen Medieninstallation ver­mit­telt wird.

Figurinen – Einführung in die Möglichkeiten der Bewegungen. Fotografie©IlkayKarakurt

Beitrag von Prof. Dr. Chris Gerbing

Prof. Dr. Chris Gerbing, Honorarprofessorin für Kulturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist freiberuflich tätig als Kuratorin, Autorin, Redakteurin, Lektorin und Dozentin – kurzum: sie ist mit allem, was mit Kunstgeschichte im engeren und weiteren Sinn zu tun hat, beschäftigt, wobei ihre Schwerpunkte u.a. auf Kunst und Architektur des 20./21. Jahrhunderts liegen und sie vor allem die Randbereiche ihrer Disziplin interessieren.

Die Teilnehmer der Studioproduktion EventMedia: Studierende: Niels Keller, Andrea Guerrero, David Waldow, Daniel Zinser, Ria Goller, Shari Mölges, Svetoslav Mitsev, Julia Koken, Franca Bittner, Sophia Schimpgen, Torben Rumpf und Corbinian Pfeiffer. Betreuung: Professorin Ursula Drees, Nadja Weber und Steffen Mühlhöfer.

Beteiligt waren über ein Semester lang drei Fakultäten mit vier Studiengängen: Fakultät Electronic Media mit den Studiengängen Audiovisuelle Medien und Medienwirtschaft, Fakultät Computer Science and Media und die Fakultät Information und Kommunikation mit dem Studiengang Informationsdesign.

weitere Links: Schlemmer Beats am 14.2. in der Staatsgalerie Stuttgart

„SCHLEMMER X BEATS“ – INTERACTIVE ART CLUB BY STUDIOPRODUCTION EVENT MEDIA, AT STAATSGALERY STUTTGART

SCHLEMMER X BEATS“: VIRTUELLE WELT DES TANZES

Schlemmer Beats: Neues Weekend Warm-up in der Staatsgalerie

Schlemmer Beats: Weekend Warm up

WEEKEND WARM UP: SCHLEMMER BEATS

Schlemmer x Beats am 14.2. in der Staatsgalerie Stuttgart

Elektro ist angesagt, wenn wir Schlemmers Figurinen tanzen lassen. Zum ersten Weekend Warm-up des Jahres 2020 ist die Hochschule der Medien (HdM) mit ihrem Projekt »Schlemmer Beats« zu Gast. Tauchen Sie ein in die virtuelle Welt des Tanzes, der Kostüme, der Farben und Formen. Es erwartet Sie ein multimediales Kunsterlebnis ganz im experimentellen Charakter von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett. Die passenden Electronic Beats dazu gibt es von Waltraud Lichter, Drinks von GINSTR und Snacks liefert das Fresko. Neben Führungen zu Oskar Schlemmers Triadischem Ballett (die Sammlung ist bis 24 Uhr geöffnet, im Anschluss geht es in der Stirling-Halle weiter) erwarten Sie außerdem Specials wie das Fotostudio »Formengymnastik« und der Workshop »Schlemmer tanzen« mit Torsten Blume und dem Play Bauhaus-Team aus Dessau. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der Hochschule der Medien, LIFT Das Stuttgartmagazin und der Stiftung Bauhaus Dessau statt. Für Mitglieder der Jungen Freunde Staatsgalerie ist der Eintritt frei. Tickets im Vorverkauf gibt es hier: https://shop.staatsgalerie.de/index.p…

Auf der Generalprobe in der Hochschule der Medien entstanden schon einige Bilder. Wir danken James Palik für die professionellen Fotografien.

Oben links: Eindrücke des Clubs. Nur ist das ein Prototyp. In der Staatsgalerie werden die Räumlichkeiten grösser, dunkler und aufregender.

Oben rechts: Die Auswahlsäulen: erst werden die Module der jeweiligen Schlemmerischen Kostüme des Triadischen Balletts ausgesucht. Dafür dreht der/die BesucherIn die Säulenteile und sieht real time auf der Projektion, wie das Kostüm aussieht. Wenn der/die BesucherIn zufrieden ist, wird die Auswahl mit Klick auf den Button bestätigt und der Triadische Balletttänzer betritt den Club Schlemmer x Beats.

Unten: Triadische Ballett Tänzer im Virtuellen Club. Dort treffen sich der/die BesucherIn und es wird getanzt.

Beitrag von Prof. Ursula Drees