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Wir machen ein Selbstportrait. Zu COVID-19. Einfach so.

Der Virus legt die Kulturwelt lahm. Museen sind geschlossen, Festivals, Veranstaltungen werden abgesagt. Das ist gut, denn der Virus ist nicht zu unterschätzen. Für Kulturschaffende eine lebensbedrohliche Situation, denn die Aufträge und Engagements fallen weg. Wie soll das Leben finanziert werden? Wir hoffen, dass die Bundesregierung eine Kompensation schaffen wird. Auch wenn Kultur nicht systemrelevant ist, so ist es eine massgebliche Tätigkeit. Dort wo Kultur betrieben wird, wo Vielfalt und Diversität zu sehen ist, da ist ein Land reich an Eindrücken, Wissen, Erfahrungen und Impulsen.
Wir wollen wieder Veranstaltungen betrachten und die Schönheiten der Projekte festhalten. Aber erst werden wir auch, wie alle anderen, warten, zu Hause sein und vor allem Gesund bleiben.
Deshalb: lasst uns ein Selbstportrait zu COVID -19 machen. Jeder sein eigenes. Sie werden hier veröffentlicht.
Das ist meins.

Gesunde Grüsse ursula drees
Dziga Vertov‘s experimentaler Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“, 1929, stellt die Grundlage für das Werk dar. Ein Fotograf zieht mit seiner Kamera los und erzählt vom russischen Leben: im Stollen, auf Baustellen, im Gas-oder Stahlwerk, im Kreissaal, Krankenhaus, bevor, während, nach einer Geburt, am Staudamm, am schäumenden Wasser, in einer Fadenfabrik, am Hafen, in der Druckerei, beim Galopprennen, einer Modeschau, am Strand und Sprungturm, Gymnastik, Schwimmern, Wasser, Treppen, Leitern, Schiffsreling, Fango, schminken, flirten, Sonnen baden, Frau und Mann. Es ist ein endloser Strom von Eindrücken. Ein historisches Zeitdokument, ein Klassiker.
Dem beigestellt der Film mit dem Titel: Computer with an Internet Connection“. Ein Algorithmus wirkt und findet passende Vergleichsbilder. Die verblüffende Übereinstimmung der Bildinhalte, Formsprache, Einstellungsgrössen, Hell und Dunkel Kontraste, Bewegungschnelligkeit, Bilddetails lässt vermuten, dass programmierte Einschränkungen vorgenommen wurden. Das schwarz weiss Bild und die zeitliche Einordnung entspricht dem Originalbild.
Links seitig werden teils bekannte Filme erkannt. Ist das der Film „Badende im Berliner Wannseebad“, oder dort Leni Riefenstahl‘s „Triumph des Willens“ neben Ansichten von Kathedralen, Eingängen oder Türen zu entdecken? Picasso, Einstein, Stars der Schwarzweiss Film Era wie Charlie Chapman lassen sich im schnellen, linken Bildwechsel erkennen. Es sind Alltagsbilder, aber auch Ikonen der Film- und Fotokunst, die zu einen rasanten Parallelfilm werden.
Von Modernität der Gegenwart kann nicht gesprochen werden, dafür sorgt der Algorithmus. Die Schnittgeschwindigkeit ähnelt wohl am ehesten dem Takt der Gegenwart. Es lässt sich nicht leugnen, dass der Vergleich und die Addition der Vergleichsbilder Faszination ausüben. In der Schnelligekt der Bilder einzelne Motive festzuhalten ist verführerisch, gleichzeitig macht sich ein Gefühl der Ruhe und Egalität breit.
Wo beginnt die kreative Leistung, der künstlerische Moment? Ist es die Idee, das Programmieren des Algorithmus? Ist es die Formatierung? Wer ist der Künstler? Der Mensch oder der Rechner? Ist es ein künstlerisches oder technisches Artefakt mit künstlerisch wirkenden Bildern? Diese Frage ist noch ungeklärt. In jedem Fall ist die Wahl des Titels mit Humor und Kenntnisreichtum durchgeführt. Manch ein Künstler verpasst die Möglichkeit, diese Form der Identifikation durchzuführen und auch eine erweiterte Aufladung zu erschaffen.
Beitrag von Prof. Ursula Drees
Credits: Daniela Rossell & Galen Jackson
United States 2019
Single-channel video installation
https://www.greenenaftaligallery.com/artists/daniela-rossell
http://galenjackson.com/
gesehen auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter im Kunstbezirk in der Ausstellung: Expanded Media.
Die Besucherin wird einzeln aufgerufen. Es geht einige Stufen nach unten, Türen gehen auf, werden geschlossen, hinein in den ersten Flur, dann in den zweiten. Dort steht der kleine runde Tisch, ein Stuhl. „Bitte legen sie ihre Brille ab, ziehen sie die Schuhe und Strümpfe aus, legen sie die Kette, Uhr und das Halstuch ab.“ Alles wird befolgt, dann werden die Augen verbunden und Kopfhörer aufgesetzt. Glücklicherweise wird die Besucherin zum tatsächlichen Performance Ort geleitet. Bis dahin ist alles Wirklichkeit. Alles. Natürlich interessiert die Low-tech Virtuality experience for one performer and one participant. Keine Frage, die Rezipientin wundert sich, wo denn die Medien, die Technik und der Datenhandschuh, oder das Head Mountet Set ist. Das gibt es alles nicht. Es ist eine Low Key Virtual Reality Performance

Nun sitzt die Besucherin auf dem Sofa und Musik und Kneipengeräusche sind aus der Ferne zu hören. Die Tür geht auf, Rauchgeruch schwappt in die Nase. Schritte und schon wird eine sehr gut gekühlte Flasche in die Hand gedrückt. Da sitzt sie nun, mit Augenbinde und hält die Flasche in der Hand. Trinken nun oder nicht? Was mag in der Flasche sein? Bier, Schnaps, Wasser, Wasserfarbe, Wein, Sprudel? Die Tür geht wieder auf, wieder Rauchgeruch, Schritte. Jemand berührt die Schulter. Wird gerempelt? Plötzlich wird eine Flüssigkeit über die Füsse gegosssen.
Das Kopfkino beginnt, denn eigentlich lässt es sich gut entspannen. Das Vertrauen wächst. Innerlich geht die Stimme los und beschwert sich über das grobe Verhalten. Dann geht die Tür wieder auf und jemand nimmt nebenan auf der Couch Platz. Sehr nah und aufdringlich. Der Atmen riecht nach Bier, Hände berühren die Schulter und sogar das Gesicht. Es riecht. Jetzt heisst es reagieren. Die Besucherinn mag nicht ausserhalb der Situation sein. Sie dreht den Kopf weg, hält die Hand an ihr Gesicht und unterbricht die unerwünschte Annäherung. Sie will sich nicht weiterhin in einem künstlerischen Raum befinden, denn alles was geschieht ist Wirklichkeit. Das Aufdringliche verschwindet, die Tür geht auf und zu.

Eine Pferd läuft hinter der Rezipientin vorbei. Dann kommt ein Hund. Es ist sicherlich ein grosser Hund. Seine riesige Zunge schleckt die Flüssigkeit vom Fuss. Dann wird auch ein bisschen das Hosenbein beschleckt. Sehr hündisch alles. Auch er verschwindet. Dann geht alles sehr schnell. Ein Difilibrator wird auf die Brust gesetzt, es ist eine schreckliche Notsituation. Was geht hier vor? Ist so der Herzinfarkt, ist es einer der zur Besucherin gehört? Oh ja, die Hand erhebt sich und greift zum medizinischen Gerät. „Lass ab von mir“. Aber es ist zu spät, wenige Augenblicke später liegt ein pulsierendes Herz in der Hand. Warm, lebt es in der Hand. Wer hat da wessen Herz gestolen? Ist es vielleicht das Eigene?

Dann ist es vorbei. Hoffentlich ist hier das Leben nicht gegangen. Scheinbar. Aufstehen, zurück geleitet werden, nach draussen und die Verdunklungsmaske und die Kopfhörer dürfen abgelegt werden. Der Ort des low key virtual reality performance wird verlassen, die eine Wirklichkeit wird mit einer anderen ausgetauscht. Das Erlebnis ist eindringlich, es ist wahrhaftig. Die innere Geschichte ist erlebt, auch wenn sie nach 6 Minuten ein Ende findet.
Später werden die Techniken erklärt. So befinden sich tatsächlich auf einem Tisch alte Bierflaschen und volle Aschenbecher. Die muffeln überzeugend nach Kneipe. Der Raum selbst ist eher eine Kammer, winzig. So klein kommt sie in der Vorstellung nicht daher. Die Hundezunge ist ein nasser Lappen und der Defilibrator ein Staubsauger auf der Brust. Gerade der Staubsauger ist verblüffend. Hätte die Besucherin gewettet, es wird tatsächliches Gerät angelegt. Das pulsierende Herz ist Slime, etwas erwärmt. Das wiederum erstaunt nicht, ähnliches wurde vermutet. Ein tolles Erlebnis, eine tolle Performance auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter erlebt.
Beitrag von Prof. Ursula Drees
Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“
Bystander ist eine interaktive Multimediainstallation der jungen Künstlerin Liu Chang, die thematisch traumatisierende Missbrauchserfahrungen ihrer Kindheit und eine daraus resultierende posttraumatische Belastungsstörung zur Grundlage hat.

Kern der symmetrisch angeordneten Installation ist ein interaktives Videogame am Ende des Installationsraumes, zu dem die Besucherin durch hintereinander hängende Gazeschichten gelangt. Leicht geblendet wird die BesucherIn von den, darauf vervielfältigt erscheinenden, Gegenlichtprojektionen aller Erinnerungsfragmente, die begleitet von einer weiblichen Stimme, die BesucherIn auffordert, in die tiefste verborgene Ebene des traumatischen Erlebnisses hineinzugehen und einer jüngeren Stimme, die dem folgt. Hier ist der Ausgangspunkt des interaktiven Videospiels. Sie steuert, die von hinten zu sehende, mädchenartige Identifikationsfigur (First Person Shooter Perspektive) durch eine Synapsen ähnlich verwobene Struktur einer virtuellen Landschaft. Diese löst sich immer wieder in Einzelteile auf und die BesucherIn muss herausfinden, wie sie Inhalte freilegt und zu neuen Erzählebenen, also Spiel-Leveln gelangt.

Tag und Nacht, Vergangenheit und Gegenwart, oben und unten, real und virtuell, alles fließt ineinander und erscheint vierdimensional. Überall verstreutes fragmentarisches Gewimmel, aus den von der Künstlerin in Hong-Kong aufgenommenen 3D-Welten und abstrakte Elemente werden von lauten Soundkulissen begleitet. Das Einnehmen der Position des personalen und gleichzeitig allwissenden Beobachters lässt die BetrachterIn in eine ähnliche Dissoziation, wie sie die Künstlerin am Eigenen Leib erlebte, eintauchen. Eine fluktuierende Auflösung des Visuellen verstärkt zusätzlich die Wahrnehmung der urbanen Geräusche, die durch den zeitweisen Verlust der Orientierung zur Bedrohung für den natürlichen Instinkt werden.

Das narrative Design wird von der Künstlerin virtuos benutzt und ermöglicht, innere und äußere Wahrnehmung fließend und gleichzeitig anzubieten. Das geschieht in einer einprägenden und dem Thema angemessenen neuwertigen Ästhetik. Reale filmische Elemente sind als Schlüsselszenen erzählerisch und visuell homogen in das Spiel eingewoben. In einer Solchen betritt die BetrachterIn den „secret garden“ zusammen mit der Protagonistin. Dort treffen Beide eine weibliche Überfigur, in dessen Armen die Spieldramaturgie den heimlichen Höhepunkt findet, nämliche die Auflösung der Auflösung, also die Heilung.

Auch wenn es pathetisch klingt, so merkt die Autorin an, dass sie diesen Pathos nicht unangenehm oder übertrieben empfindet. Der Umgang mit dem Thema und die lückenhafte und zeitgleich dichte Formensprache vermitteln Ehrlichkeit. Diese Aufrichtigkeit wirkt sowohl bestimmend, als auch sanft und verspielt. Latente Wut und Hilflosigkeit transportieren sich sowohl beim Bedienen des Games an und für sich, als auch in den wenigen eingewobenen realen filmischen Szenenbruchstücken. Besonders hervorzuheben ist zum Beispiel eine Szene von essenden Männern, deren Handeln, ein schmatzendes in sich Hineinstopfen durch eindringliche Nahaufnahmen vermittelt wird. Die BetrachterIn ist unmittelbar involviert und visuell eingebunden. Diese laut grunzende Selbstzufriedenheit vermittelt die Urform männlicher Ignoranz, eine nahezu selbstverliebte Dummheit, die keinen Raum für Reflexion oder Empathie lässt. Der Mann, der alles in sich stopft. Er schaut nicht rechts oder links, frisst und verleibt sich alles ein. Die Metapher sitzt.

Die Arbeit der jungen Künstlerin befasst sich mit dem Weiblichen, dem Reflektieren und Verarbeiten persönlicher Erlebnisse. Die Künstlerin referenziert sich selbst.
Die Jury des 33igsten Stuttgarter Filmwinters des Wettbewerbs der Kategorie „Network Culture“ fühlt sich durch diese Arbeit daran erinnert, dass die Bedeutung der Muse in der Kunstgeschichte eine Verschiebung erfährt. Frauen sind nicht länger Vorlagen des männlichen Blicks. Die junge Künstlerin erschafft einen virtuellen Körper und übernimmt die Kontrolle über alle Abbilder und deren Dekonstruktion.

Also fitting the festival theme very well is the work we have chosen in the Network Culture category. By playing „Bystander“, we become complicit in the experiences of the protagonist and join her on her journey of recovery from trauma. In this way, the protagonist open-sources her healing, and finds a way to talk about very personal experiences and repressed memories by moving the focus from herself to the artwork. The closer we come to the truth, the fuzzier the content – the images start to literally fragment and dissolve. Past and present collide and interact in this virtual world. The technology becomes a device to virtualise her journey and invite others to become involved. The work reminds us that the relevance of the muse in art history has shifted. Women are no longer models for male gaze. The young female artist creates a virtual body and takes control over all images and their deconstruction.“ Begründung der Jury
Der Künstlerin ist die Aktualität, der von ihr angesprochenen Thematik nicht die wichtigste Motivation, wie sie in einem Interview mit der Autorin berichtet. Auch kümmert sich die Absolventin des Medienkünstlers IP Yuk-Yiu nicht um einen vermeintlichen Kodex in der zeitgenössischen Kunst, Kunsttherapie und Kunst voneinander fernzuhalten, im Gegenteil: unter Zuhilfenahme eines noch intensiveren Studiums der Psychologie und dem Ausbau ihrer Fertigkeiten im Umgang mit erzählerischen Gestaltungsmöglichkeiten und deren Neuprogrammierung möchte sich die angehende Doktorandin vertiefend dem Thema der PTBS widmen.
Am Vergleich nicht interessiert, lässt sie sich am Anfang ihres professionellen Weges als Künstlerin nicht von scheinbar genialen, bestehenden und vorhergehenden Ideen blockieren. Sie benutzt ihre Werkzeuge, um Verbindungen zu schaffen, die entscheidende Voraussetzung für Verstehen und einen Bewusstseinswandel. Kunst und Forschung finden eine Verbindung in der Person der Künstlerin Liu Chang.
Beitrag von Lili Weiss
Lili Weiss wurde in Arad/Rumänien geboren und diplomierte an der Bauhaus-Universität in Weimar als Multimediakünstlerin. In Genf absolvierte sie den Master in Kunst im öffentlichen Raum, einem Genre, das ihre Spielräume in Bereiche ausserhalb des musealen Kunstkontextes erweiterte. Sie inszeniert Räume, indem sie sich der ganzen Bandbreite aller bekannten verfügbaren Medien in einer poetischen Bildsprache bedient und erschafft Situationen zur Bewusstmachung der Wahrnehmung. Mit ihren aktuellen Kunstfiguren bringt sie Kompositionen in Musikperformances auf die Bühne. Seit 2011 lebt und arbeitet sie in Stuttgart.

Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“