plusinsight

Monthly Archives: März 2020

„Computer with an Internet Connection“ von Daniela Russel and Galen Jackson, USA, 2019

Dziga Vertov‘s experimentaler Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“, 1929, stellt die Grundlage für das Werk dar. Ein Fotograf zieht mit seiner Kamera los und erzählt vom russischen Leben: im Stollen, auf Baustellen, im Gas-oder Stahlwerk, im Kreissaal, Krankenhaus, bevor, während, nach einer Geburt, am Staudamm, am schäumenden Wasser, in einer Fadenfabrik, am Hafen, in der Druckerei, beim Galopprennen, einer Modeschau, am Strand und Sprungturm, Gymnastik, Schwimmern, Wasser, Treppen, Leitern, Schiffsreling, Fango, schminken, flirten, Sonnen baden, Frau und Mann. Es ist ein endloser Strom von Eindrücken. Ein historisches Zeitdokument, ein Klassiker. 

Der Blaustich erklärt sich durch die Grundbeleuchtung des Galeriespaces: Kunstbezirk. Es ist eine Handyaufnahme von Ursula Drees

Dem beigestellt der Film mit dem Titel: Computer with an Internet Connection“. Ein Algorithmus wirkt und findet passende Vergleichsbilder. Die verblüffende Übereinstimmung der Bildinhalte, Formsprache, Einstellungsgrössen, Hell und Dunkel Kontraste, Bewegungschnelligkeit, Bilddetails lässt vermuten, dass programmierte Einschränkungen vorgenommen wurden. Das schwarz weiss Bild und die zeitliche Einordnung entspricht dem Originalbild. 

Links seitig werden teils bekannte Filme erkannt. Ist das der Film „Badende im Berliner Wannseebad“, oder dort  Leni Riefenstahl‘s „Triumph des Willens“ neben Ansichten von Kathedralen, Eingängen oder Türen zu entdecken? Picasso, Einstein, Stars der Schwarzweiss Film Era wie Charlie Chapman lassen sich im schnellen, linken Bildwechsel erkennen. Es sind Alltagsbilder, aber auch Ikonen der Film- und Fotokunst, die zu einen rasanten Parallelfilm werden. 

Von Modernität der Gegenwart kann nicht gesprochen werden, dafür sorgt der Algorithmus. Die Schnittgeschwindigkeit ähnelt wohl am ehesten dem Takt der Gegenwart.  Es lässt sich nicht leugnen, dass der Vergleich und die Addition der Vergleichsbilder Faszination ausüben. In der Schnelligekt der Bilder einzelne Motive festzuhalten ist verführerisch, gleichzeitig macht sich ein Gefühl der Ruhe und Egalität breit. 

Der Blaustich erklärt sich durch die Grundbeleuchtung des Galeriespaces: Kunstbezirk. Es ist eine Handyaufnahme von Ursula Drees

Wo beginnt die kreative Leistung, der künstlerische Moment? Ist es die Idee, das Programmieren des Algorithmus? Ist es die Formatierung? Wer ist der Künstler? Der Mensch oder der Rechner? Ist es ein künstlerisches oder technisches Artefakt mit künstlerisch wirkenden Bildern? Diese Frage ist noch ungeklärt. In jedem Fall ist die Wahl des Titels mit Humor und Kenntnisreichtum durchgeführt. Manch ein Künstler verpasst die Möglichkeit, diese Form der Identifikation durchzuführen und auch eine erweiterte Aufladung zu erschaffen.

Beitrag von Prof. Ursula Drees

Credits: Daniela Rossell & Galen Jackson
United States 2019
Single-channel video installation
https://www.greenenaftaligallery.com/artists/daniela-rossell
http://galenjackson.com/

gesehen auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter im Kunstbezirk in der Ausstellung: Expanded Media.

Low-tech Virtuality experience for one performer and one participant. Virtual Feelings, Episode 1: The Kiss von Inbal Yomtovian und Marc Fragstein.

Die Besucherin wird einzeln aufgerufen. Es geht einige Stufen nach unten, Türen gehen auf, werden geschlossen, hinein in den ersten Flur, dann in den zweiten. Dort steht der kleine runde Tisch, ein Stuhl. „Bitte legen sie ihre Brille ab, ziehen sie die Schuhe und Strümpfe aus, legen sie die Kette, Uhr und das Halstuch ab.“  Alles wird befolgt, dann werden die Augen verbunden und  Kopfhörer aufgesetzt. Glücklicherweise wird die Besucherin zum tatsächlichen Performance Ort geleitet. Bis dahin ist alles Wirklichkeit. Alles.  Natürlich interessiert die Low-tech Virtuality experience for one performer and one participant. Keine Frage, die Rezipientin wundert sich, wo denn die Medien, die Technik und der Datenhandschuh, oder das Head Mountet Set ist. Das gibt es alles nicht.  Es ist eine Low Key Virtual Reality Performance

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Nun sitzt die Besucherin auf dem Sofa und Musik und Kneipengeräusche sind aus der Ferne zu hören. Die Tür geht auf, Rauchgeruch schwappt in die Nase. Schritte und schon wird eine sehr gut gekühlte Flasche in die Hand gedrückt. Da sitzt sie nun, mit Augenbinde und hält die Flasche in der Hand.  Trinken nun oder nicht? Was mag in der Flasche sein? Bier, Schnaps, Wasser, Wasserfarbe, Wein, Sprudel? Die Tür geht wieder auf, wieder Rauchgeruch, Schritte. Jemand berührt die Schulter.  Wird gerempelt? Plötzlich wird eine Flüssigkeit über die Füsse gegosssen.

Das Kopfkino beginnt, denn eigentlich lässt es sich gut entspannen. Das Vertrauen wächst. Innerlich geht die Stimme los und beschwert sich über das grobe Verhalten. Dann geht die Tür wieder auf und jemand nimmt nebenan auf der Couch Platz. Sehr nah und aufdringlich. Der Atmen riecht nach Bier, Hände berühren die Schulter und sogar das Gesicht. Es riecht. Jetzt heisst es reagieren. Die Besucherinn mag nicht ausserhalb der Situation sein. Sie dreht den Kopf weg, hält die Hand an ihr Gesicht und unterbricht die unerwünschte Annäherung. Sie will sich nicht weiterhin in einem künstlerischen Raum befinden, denn alles was geschieht ist Wirklichkeit. Das Aufdringliche verschwindet, die Tür geht auf und zu.

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Eine Pferd läuft hinter der Rezipientin vorbei. Dann kommt ein Hund. Es ist sicherlich ein grosser Hund. Seine riesige Zunge schleckt die Flüssigkeit vom Fuss. Dann wird auch ein bisschen das Hosenbein beschleckt. Sehr hündisch alles. Auch er verschwindet. Dann geht alles sehr schnell. Ein Difilibrator wird auf die Brust gesetzt, es ist eine schreckliche Notsituation. Was geht hier vor? Ist so der Herzinfarkt, ist es einer der zur Besucherin gehört? Oh ja, die Hand erhebt sich und greift zum  medizinischen Gerät. „Lass ab von mir“. Aber es ist zu spät, wenige Augenblicke später liegt ein pulsierendes Herz in der Hand. Warm, lebt es in der Hand. Wer hat da wessen Herz gestolen? Ist es vielleicht das Eigene? 

Illustration der gedachten Ereignisse © Ursula Drees

Dann ist es vorbei. Hoffentlich ist hier das Leben nicht gegangen. Scheinbar. Aufstehen, zurück geleitet werden, nach draussen und die Verdunklungsmaske und die Kopfhörer dürfen abgelegt werden. Der Ort des low key virtual reality performance wird verlassen, die eine Wirklichkeit wird mit einer anderen ausgetauscht. Das Erlebnis ist eindringlich, es ist wahrhaftig. Die innere Geschichte ist erlebt, auch wenn sie nach 6 Minuten ein Ende findet.

Später werden die Techniken erklärt. So befinden sich tatsächlich auf einem Tisch alte Bierflaschen und volle Aschenbecher. Die muffeln überzeugend nach Kneipe. Der Raum selbst ist eher eine Kammer, winzig. So klein kommt sie in der Vorstellung nicht daher. Die Hundezunge ist ein nasser Lappen und der Defilibrator ein Staubsauger auf der Brust. Gerade der Staubsauger ist verblüffend. Hätte die Besucherin gewettet, es wird tatsächliches Gerät angelegt. Das pulsierende Herz ist Slime, etwas erwärmt. Das wiederum erstaunt nicht, ähnliches wurde vermutet. Ein tolles Erlebnis, eine tolle Performance auf dem 33. Stuttgarter Filmwinter erlebt.

Beitrag von Prof. Ursula Drees

Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“