Bystander ist eine interaktive Multimediainstallation der jungen Künstlerin Liu Chang, die thematisch traumatisierende Missbrauchserfahrungen ihrer Kindheit und eine daraus resultierende posttraumatische Belastungsstörung zur Grundlage hat.
Kern der symmetrisch angeordneten Installation ist ein interaktives Videogame am Ende des Installationsraumes, zu dem die Besucherin durch hintereinander hängende Gazeschichten gelangt. Leicht geblendet wird die BesucherIn von den, darauf vervielfältigt erscheinenden, Gegenlichtprojektionen aller Erinnerungsfragmente, die begleitet von einer weiblichen Stimme, die BesucherIn auffordert, in die tiefste verborgene Ebene des traumatischen Erlebnisses hineinzugehen und einer jüngeren Stimme, die dem folgt. Hier ist der Ausgangspunkt des interaktiven Videospiels. Sie steuert, die von hinten zu sehende, mädchenartige Identifikationsfigur (First Person Shooter Perspektive) durch eine Synapsen ähnlich verwobene Struktur einer virtuellen Landschaft. Diese löst sich immer wieder in Einzelteile auf und die BesucherIn muss herausfinden, wie sie Inhalte freilegt und zu neuen Erzählebenen, also Spiel-Leveln gelangt.
Tag und Nacht, Vergangenheit und Gegenwart, oben und unten, real und virtuell, alles fließt ineinander und erscheint vierdimensional. Überall verstreutes fragmentarisches Gewimmel, aus den von der Künstlerin in Hong-Kong aufgenommenen 3D-Welten und abstrakte Elemente werden von lauten Soundkulissen begleitet. Das Einnehmen der Position des personalen und gleichzeitig allwissenden Beobachters lässt die BetrachterIn in eine ähnliche Dissoziation, wie sie die Künstlerin am Eigenen Leib erlebte, eintauchen. Eine fluktuierende Auflösung des Visuellen verstärkt zusätzlich die Wahrnehmung der urbanen Geräusche, die durch den zeitweisen Verlust der Orientierung zur Bedrohung für den natürlichen Instinkt werden.
Das narrative Design wird von der Künstlerin virtuos benutzt und ermöglicht, innere und äußere Wahrnehmung fließend und gleichzeitig anzubieten. Das geschieht in einer einprägenden und dem Thema angemessenen neuwertigen Ästhetik. Reale filmische Elemente sind als Schlüsselszenen erzählerisch und visuell homogen in das Spiel eingewoben. In einer Solchen betritt die BetrachterIn den „secret garden“ zusammen mit der Protagonistin. Dort treffen Beide eine weibliche Überfigur, in dessen Armen die Spieldramaturgie den heimlichen Höhepunkt findet, nämliche die Auflösung der Auflösung, also die Heilung.
Auch wenn es pathetisch klingt, so merkt die Autorin an, dass sie diesen Pathos nicht unangenehm oder übertrieben empfindet. Der Umgang mit dem Thema und die lückenhafte und zeitgleich dichte Formensprache vermitteln Ehrlichkeit. Diese Aufrichtigkeit wirkt sowohl bestimmend, als auch sanft und verspielt. Latente Wut und Hilflosigkeit transportieren sich sowohl beim Bedienen des Games an und für sich, als auch in den wenigen eingewobenen realen filmischen Szenenbruchstücken. Besonders hervorzuheben ist zum Beispiel eine Szene von essenden Männern, deren Handeln, ein schmatzendes in sich Hineinstopfen durch eindringliche Nahaufnahmen vermittelt wird. Die BetrachterIn ist unmittelbar involviert und visuell eingebunden. Diese laut grunzende Selbstzufriedenheit vermittelt die Urform männlicher Ignoranz, eine nahezu selbstverliebte Dummheit, die keinen Raum für Reflexion oder Empathie lässt. Der Mann, der alles in sich stopft. Er schaut nicht rechts oder links, frisst und verleibt sich alles ein. Die Metapher sitzt.
Die Arbeit der jungen Künstlerin befasst sich mit dem Weiblichen, dem Reflektieren und Verarbeiten persönlicher Erlebnisse. Die Künstlerin referenziert sich selbst.
Die Jury des 33igsten Stuttgarter Filmwinters des Wettbewerbs der Kategorie „Network Culture“ fühlt sich durch diese Arbeit daran erinnert, dass die Bedeutung der Muse in der Kunstgeschichte eine Verschiebung erfährt. Frauen sind nicht länger Vorlagen des männlichen Blicks. Die junge Künstlerin erschafft einen virtuellen Körper und übernimmt die Kontrolle über alle Abbilder und deren Dekonstruktion.
Also fitting the festival theme very well is the work we have chosen in the Network Culture category. By playing „Bystander“, we become complicit in the experiences of the protagonist and join her on her journey of recovery from trauma. In this way, the protagonist open-sources her healing, and finds a way to talk about very personal experiences and repressed memories by moving the focus from herself to the artwork. The closer we come to the truth, the fuzzier the content – the images start to literally fragment and dissolve. Past and present collide and interact in this virtual world. The technology becomes a device to virtualise her journey and invite others to become involved. The work reminds us that the relevance of the muse in art history has shifted. Women are no longer models for male gaze. The young female artist creates a virtual body and takes control over all images and their deconstruction.“ Begründung der Jury
Der Künstlerin ist die Aktualität, der von ihr angesprochenen Thematik nicht die wichtigste Motivation, wie sie in einem Interview mit der Autorin berichtet. Auch kümmert sich die Absolventin des Medienkünstlers IP Yuk-Yiu nicht um einen vermeintlichen Kodex in der zeitgenössischen Kunst, Kunsttherapie und Kunst voneinander fernzuhalten, im Gegenteil: unter Zuhilfenahme eines noch intensiveren Studiums der Psychologie und dem Ausbau ihrer Fertigkeiten im Umgang mit erzählerischen Gestaltungsmöglichkeiten und deren Neuprogrammierung möchte sich die angehende Doktorandin vertiefend dem Thema der PTBS widmen.
Am Vergleich nicht interessiert, lässt sie sich am Anfang ihres professionellen Weges als Künstlerin nicht von scheinbar genialen, bestehenden und vorhergehenden Ideen blockieren. Sie benutzt ihre Werkzeuge, um Verbindungen zu schaffen, die entscheidende Voraussetzung für Verstehen und einen Bewusstseinswandel. Kunst und Forschung finden eine Verbindung in der Person der Künstlerin Liu Chang.
Beitrag von Lili Weiss
Lili Weiss wurde in Arad/Rumänien geboren und diplomierte an der Bauhaus-Universität in Weimar als Multimediakünstlerin. In Genf absolvierte sie den Master in Kunst im öffentlichen Raum, einem Genre, das ihre Spielräume in Bereiche ausserhalb des musealen Kunstkontextes erweiterte. Sie inszeniert Räume, indem sie sich der ganzen Bandbreite aller bekannten verfügbaren Medien in einer poetischen Bildsprache bedient und erschafft Situationen zur Bewusstmachung der Wahrnehmung. Mit ihren aktuellen Kunstfiguren bringt sie Kompositionen in Musikperformances auf die Bühne. Seit 2011 lebt und arbeitet sie in Stuttgart.
Zum Filmwinter: „Seit über 30 Jahren widmet sich das Festival den Grenzübergängen von Kino und Medienkunst mit einem experimentierfreudigen internationalen Programm aus Filmen, Workshops, der Expanded Media Ausstellung und Performances. Kern des Festivals sind die internationalen Wettbewerbe für Kurzfilm, Medien im Raum und Network Culture flankiert von einem generationsübergreifenden umfangreichen Programm. Jedes Jahr steht der Stuttgarter Filmwinter unter einem bestimmten Motto. Dieses findet sich in der Gestaltung, Rahmenprogramm und der gesamten Aura des Festivals wieder. Bei der Festivaledition im Januar 2020 erforscht der Stuttgarter Filmwinter das Thema Abwesenheit.“
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