von Dr. Margarete von Trifft
Was macht ein Erlebnis in einer künstlich erstellten Umgebung zu dem was es ist? Wir sprechen viel vom Erleben. Erlebnisreisen, Erlebnispfade, Erlebnisarchitektur, Erlebnisküche, Erlebnisbad, Erlebnisgeschenk, Erlebnispädagogik… Es scheint, als sei das Erleben eine seltene Beschaffenheit geworden. Es wird in artifiziellen Umgebungen reproduziert, in der Hoffnung, Erleben zu thematisieren.
Sicherlich ist es teils der Virtualität der heutigen Lebensweise geschuldet. Auch wenn der Mensch sich im Alltagsleben durch Wirklichkeiten bewegt, so darf gefragt werden, ob die Aufmerksamkeit diesem oder einem anderen Umfeld gewidmet wird. Diese Wirklichkeit wird durch eine parallele Informationsquelle begleitet. Mobile Medien lassen einen zweiten tragbaren Realitätsraum zu. Er wird nah am Körper getragen und nicht aus den Augen gelassen. Bei Ruhe und scheinbarer Impulslosigkeit, bietet diese Wirklichkeit Reize. In vielen Fällen beschäftigt sich der Mensch dann mit Lesen, Bilder schauen, liken, spielen, Film schauen, Schnappschüsse irgendwo hoch laden, etwas kommentieren, kurz mit Ablenkung von dem Hier und Jetzt. Der Fokus ist in eine Parallelrealität gerichtet und verhindert das Zusammenkommen mit Zufälligkeiten. Eine Abschottung für das Unerwartete.
Ist das der Grund für die fortscheitende Erlebniskultur? Und wenn Erlebnis, dann von was? Erlebnisse, die alltäglich sind, wie Einkaufen, Aufstehen, Spazieren gehen, Gewitter erleben oder Geschenke öffnen? Oder sind Erlebnisse gemeint, die selten hautnah gemacht werden wie Autounfall, Aufenthalt im Gefängnis, Leben in einem Kriegsgebiet, Leben als Homosexueller, Verfolgung, Hunger, Isolation….? Oder ein Beleben von Vergangenem? Wie war es mit Dinosauriern, wie als Jane Austen oder Schafhirt im 15. Jahrhundert? Kann ein schwieriger Sachverhalt in künstlichen und inszenierten Umgebungen zu einem Erlebnis werden?
In der Studioproduktion Event Media an der Hochschule der Medien in Stuttgart wurde das Thema Zwangsstörungen und daraus resultierende Folgekrankheiten behandelt. Es sind unsichtbare Behinderungen, ohne Gips, Krücken, Pflaster, Nähte, Operationen und an der Oberfläche sichtbaren Indizien. Da wird nicht gehustet, es gibt keine Ausschläge oder laufende Nasen. Leidende unterscheiden sich äußerlich nicht von den Gesunden. Dennoch: Leidende mit unsichtbaren Krankheiten werden durch Gedanken, Handlungen und Zwängen abgelenkt und irritiert. Stressmomente arten zu chronischen Krankheiten wie z.B. Migräne, Gürtelrose, Schüttelfrost usw. aus.
Die Studioproduktion Event Media beschränkt sich auf zwei Präzedenzen. Zwangshandlung und Migräne. Zwangshandlungen wie das Abzählen von Autos am Morgen, Hände waschen, Kleidung im Schrank in DinA4 auszulegen, Elemente im rechten Winkel ordnen, Reihenfolgen einhalten ohne Grund, Abläufe schematisieren. Das allein mag nicht hinderlich im Alltag sein, aber wenn der Zwang Ängste, Unsicherheiten und Verwirrung auslöst, dann gewinnt er die Oberhand, drängt Normalität zurück. Dinge werden immer wieder auf ihre Richtigkeit kontrolliert, nachrücken, nach justieren, es lässt den Leidenden nicht los, verhindert ein Fortschreiten. Das Selbstverständliche wird zum Ausnahmezustand. Es führt zu Druck, Stress, Empfinden des Gejagtseins und zu Folgeerkrankungen wie z.B. Migräne.
Migräne will niemand erleben. Der Kopf scheint zu platzen. Die Augen werden durch helle weiße Blitze vom Sehen abgehalten, die Balance funktioniert nicht, plötzlich steht ein Türrahmen im Weg und es reicht nicht um auszuweichen, Tassen fallen aus der Hand, manchmal kommt es zu kurzen Erblindungserscheinungen. Das Hörvermögen wird über beansprucht, alles dröhnt in zehnfacher Lautstärke. Die Ohren, die Augen, selbst das Kauen oder gar Atmen bedeutet erhebliche Schmerzen. Keine Bewegung, keine Impulse, nichts funktioniert, Stillstand, ein kleiner Tod. Es helfen Triptane, Tabletten, oder / und eine isolierte dunkle Zelle weit ab vom Leben.
Wie kann eine solche Krankheit in einem Erlebnisraum vermittelt werden? Wie kann der unbedarfte Zuschauer sich einer solchen Situation nähern?
In der Produktion „insights – Monster im Kopf“ wird ein Versuch unternommen, die sakrale Einheit des Menschen beim Auseinanderbrechen, nachvollziehbar zu machen. Ein verwirrendes Raumgefüge ist die Grundlage dieser Installation. Dabei beginnt alles so einfach und überschaubar, ja harmlos. Ein geordneter Raum wird betreten. Viel gibt es nicht zu begreifen, ein Schlüsselboard, ein Tassen-, ein Schubladenschrank. An der Seite Kleidung- und Schuhsäcke, sehr aufgeräumt, sauber, geordnet. Eine Stimme kommt von irgendwo her, es ist die Stimme des Inneren, eine Stimme als introspektives Selbstgespräch. Oder gilt die Stimme auch dem Besucher? Muss gehört und verstanden werden was gesagt wird? Wer wird gemeint? Wer wird angesprochen? Vielleicht ist sie ein wenig zu schrill, denn so weit sind die Besucher im Eintauchen noch nicht voran gekommen. Wäre eine leisere Stimme mit Nachdruck als Beginn wirkungsvoller?
„Ist der Schlüssel in der richtigen Reihenfolge?“ Kennen wir die Reihenfolge? Ist sie wichtig, warum sollte etwas in dieser Art von Belang sein? Der Besucher wird von der inneren Stimme angeleitet, sich einer fremden Perfektion, einer unbedingten Notwendigkeit, einer nicht erkennbaren Ordnung anzugleichen. Das fällt schwer, denn die verlangte Ordnung ist unverständlich. Hier läuft etwas schief. Je uneinsichtiger die Umgebung wird, desto mehr begreift der Rezipient, dass eine Unterordnung notwendig ist. Wer die Stimme nicht als seine eigene begreift, bleibt stecken, kommt nicht weiter. Dann gelingt der Schritt zur nächsten Station nicht.
Ein Regal. Dort gilt es erst eine, dann drei Tassen in die exakte Reihenfolge, Positionierung zu setzen. Nicht hochnehmen, nicht wegstellen, nur drehen. Jetzt ist die Stimme zur eigenen geworden. Sie weist keine Befremdlichkeit auf. Ein Verschmelzen findet statt.
„Öffne die nächste Station“. Ein Schubladenschrank. Alle drei Laden werden hintereinander geöffnet und geschlossen. Die Dinge sind wunderbar geordnet an ihrem vorgesehen Platz. Ausgerichtet zur vertikalen Schubladenseite und im rechten Winkel zu anderen Objekten.
Es gibt nur diese eine Ordnung. Wenn Etwas durcheinander kommt, dann geht nichts mehr. Der Besucher will der inneren Stimme entfliehen, handelt wie aufgetragen. Erst dann verlässt er das Zimmer, oder die Wohnung. Es wird hell, er tritt heraus auf Straße. Eine normale Szene. Die Wohnstraße mit parkenden Autos, vereinzelten Bäumen und einem vorbei fahrenden Transporter. Aber nichts ist normal. Blitze ziehen durch das Bild. Bildebenen verzerren sich, werden kurzfristig unsichtbar. So hell das Licht, es schmerzt, es ist gleißend. Sieht so Migräne aus? Dies ist kein Ort zum Verweilen, der Besucher sucht einen Ausgang, durchschreitet eine Tür und befindet sich im Raum der Ordnung (so bezeichnet von der Autorin). Gerade noch befreit und schon wieder gefangen.
Die Perspektive hat sich geändert. Alles geht von vorne los. Die Störung, die innere Stimme zwingt die Gäste, die Handlung zu wiederholen, zu kontrollieren, ob beim ersten Durchgang alles richtig war. Alles zu öffnen und zu schließen. Es wird dringlicher, sogar drohend und verzweifelt. Der Schlüssel als Metapher, ist er da, findet er den ihm angestammten Platz, hat er eine Funktion, kann er etwas öffnen? Der Tassenschrank? Die Schubladen, das Schubladendenken.
Erneut befreit sich der Besucher, und wird auf die Straße gespült. Dort werden die Blitze, die Auslassungen, die Veränderungen im Sichtfeld intensiver und gefährlicher. Eine fremde Innerlichkeit taucht aus den Tiefen hervor, wird an die Oberfläche geschwemmt. Und diese Oberfläche ist fremd. Abweichungen und Unsicherheiten verändern das Bild. Der Besucher betritt ein verwirrendes Spiel von fast gleichen Räumen und Situationen, verliert sich in Details. Auf subtile Art wird der Rezipient in die Welt eines zwangsgestörten Geistes beordert. Unsichtbare Krankheiten finden einen erlebbaren Raum. Die Monster im Kopf schreien an der Oberfläche nach Aufmerksamkeit, überschatten alles andere. Eine gelungene Installation: „insights – Monster im Kopf“.
Und wer die Fotografien betrachtet hier im blog, begreift während des Lesens, dass diese Abbildungen das Erlebnis nicht wiedergeben. Bei dieser Installation geht es darum, die Dinge zu fühlen, eigenständig zu handeln, dabei zu sein. Anwesende werden angeleitet, wie betroffene Kranke zu verfahren.
Ein hoher Grad an Interaktivität bestimmt das Entschlüsseln. Objekte werden berührt, gezogen, gedreht, geschoben, geöffnet und verschlossen. Die innere Stimme ist gleichermaßen Erzählung wie auch Feedback. Die Beleuchtung setzt das Stimmungsbild, Führungslichter helfen beim Verstehen und dienen als Wegeleitsystem. Effektlichter, Farben, Sprache, Geräuschteppiche verdichten. Gäste werden zu Durchreisenden eines unbekannten Phänomens. Sie tauchen in eine andere Wirklichkeit ein und schließen den Besuch unversehrt ab.
Die Gäste bewegen sich schrittweise aus ihrer Welt in eine andere, ein Gefühl und Erleben wird nicht aufgezwängt, sondern angeboten. Dieser Offerte geben die Anwesenden gerne nach. Und ganz zum Schluss werden die Eingeladenen in den Regieraum geleitet. Hier wird der Grad der Vernetzung und Verschaltung präsentiert. Die technischen Medien stellen sich als differenziertes Spiel von Monitoren, Schaltern, Kabeln, Impulsen und Controllern dar. Ein eigenes Gehirn, so scheint es, ist dieser Bereich und der Gast begreift die artifiziell hergestellte Erlebnisumgebung, hier ist die Kontrollzentrale.
Leider wird der Semesterabschluss auf der MediaNight an nur einem Tag der Öffentlichkeit präsentiert. Danach werden die Türen geschlossen und der Rückbau beginnt. So auch bei dieser Produktion, die vielleicht eindrücklichste und aufwändigste von allen. Denn die Medien in ihrer interaktiven Vernetzung im begehbaren architektonischen Raum verlassen die Leinwand. Der Betrachter schreitet durch diese Inszenierung und bestimmt sein Erlebnistempo. Manche verweilen länger, andere wiederum nicht. Diese von den Studierenden angebotene Narration will verstanden werden. Das Thema betrifft jeden, es ist allgegenwärtig, aber tabuisiert. Abweichungen des Normalen in der Psyche zu beschreiben und zu beleben, bedeutet mit Wissen und Sensibilität vorzugehen. Die Besucher wollen nicht bedrängt, erschreckt oder verstört werden, sie wollen verstehen und dafür braucht es den Wunsch und die Offenheit anwesend zu sein. Wer als Gestalter brachial vorgeht, wird das Gegenteil erzeugen. Hier jedoch funktioniert alles. Eine wahrhaft gelungene Komposition und Inszenierung.
Eine Rezension hilft das Erlebnis nahe zu bringen, aber die tatsächliche Inszenierung wird in Worten nicht erreicht. Vielleicht unterstützt die Verschriftlichung eines Ereignisses das Niveau der Arbeiten zu beschreiben und ein Kommen zur nächsten Medianight zu unterstützen. Lohnenswert wurde der Aufenthalt an dieser Veranstaltung empfunden und überstrahlt mit ihrer Qualität die ein oder andere künstlerische Aktivität, die in Galerien, Pop Up Stores oder Zwischennutzungen gezeigt werden.
Margarete von Trifft
Zur Autorin:
Dr. Margarete von Trifft studierte Soziologie und Kunstgeschichte, später freie Kunst. Sie promovierte in den Bildwissenschaften. Es ging um die Virtualität der bildlichen Ausdrucksformen, des flüchtigen Bildes. Dr. Margarete von Trifft lebt sowohl in Baltimore, als auch in Berlin. Professor Ursula Drees lud sie ein, auf der MediaNight der Hochschule der Medien den Erlebnisraum „insights-Monster im Kopf“ der Studioproduktion EventMedia für den MediaArtBlog plusinsight zu beschreiben und zu kommentieren.
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